Deutsche Friedensgesellschaft Münster

Rede- und Musikbeiträge auf der Kundgebung „Kriegsdienstverweigerung ist Menschenrecht“ im Rahmen der Freitagsmahnwache „Nein zum Krieg! Frieden schaffen ohne Waffen!“ vor dem Friedenssaal im Rathaus des Westfälischen Friedens Münster vom Freitag, 17. Mai 2024 15-17 Uhr

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Rede von Andrii Konovalov, Kriegsdienstentzieher aus der Ukraine, Student der Universität Köln (als Video: MünsterTube)

Ich möchte mich bei allen Anwesenden für ihre Zeit und die Möglichkeit bedanken, auf die Probleme aufmerksam zu machen, die viele Länder, darunter auch mein Heimatland, in diesem Moment plagen.

Als ich in der Ukraine aufwuchs, erschienen mir viele Dinge selbstverständlich und unbestritten. Mir wurde beigebracht, dass jeder Mensch den gleichen Respekt und die gleichen Rechte verdient, dass es falsch ist, Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Religion oder ihrer Gebrauchssprache zu unterteilen, und dass man solche Versuche auch tadeln sollte. Mir wurde auch beigebracht, dass die Schwachen und Wehrlosen geschützt werden sollten und nicht umgekehrt.

Leider wurde mein Aufwachsen von einer Relativierung all dieser grundlegenden Wahrheiten begleitet.

Ich habe gesehen, wie ukrainische Oligarchen, die ihr Eigentum vor russischen Oligarchen schützen wollen, zu diesem Zweck die nationalistischen Flammen innerhalb der ukrainischen Gesellschaft geschürt haben, um sozialen Unmut und Proteste für ihre primitiven und egoistischen Ziele umzulenken.

Ich habe miterlebt, wie Politiker in ihrem Streben nach höherem Rating und Finanzmitteln die Gesellschaft in Gruppen aufspalteten, diese gegen einander ausspielten und deren Interessen dreist über die Interessen der Allgemeinheit stellten. Ich habe miterlebt, wie den Gruppen jeder Grund geboten wurde, sich als ungerecht behandelt zu fühlen und wie Ungerechtigkeit, Gewalt gegen die Anderen als der einzig mögliche und daher notwendige Weg dargestellt wird, um „persönliche“ Gerechtigkeit zu erreichen.

Die Bevölkerung hat diese Politik jedoch voll verstanden und bei jeder Wahl abgelehnt. Sowohl Selenskyj als auch der vorherige Präsident kamen mit dem Versprechen von Kompromissen und Verhandlungen an die Macht. Sobald sie an der Macht waren, verkehrte sich ihre Rhetorik ins Gegenteil, ihre Kompromissbereitschaft wurde zu „roten Linien“, und statt des versprochenen Dienstes am Volk wurde es ein Dienst an der Oligarchie.

Die Künstlerin Käthe Kollwitz, die in ihren Bildern festgehalten hat, wie die Menschen unter Krieg und Armut leben mussten, hat am 11. Oktober 1916 in ihrem Tagebuch festgehalten:

„Peter, Erich, Richard, alle stellten ihr Leben unter die Idee der Vaterlandsliebe. Dasselbe taten die englischen, die russischen und die französischen Jünglinge. Die Folge war das Rasen gegen einander, die Verarmung Europas am Allerschönsten. Ist also die Jugend in all diesen Ländern betrogen worden? Hat man ihre Fähigkeit zur Hingabe benutzt, um den Krieg zustande zu bringen? Wo sind die Schuldigen? Gibt es die? Sind alle Betrogene? Ist es ein Massenwahnsinn? Und wann und wie wird das Aufwachen sein?“

Die Menschen in der Ukraine und in Russland, aber auch die Menschen hier werden betrogen, wenn von der Möglichkeit militärischer Siege gesprochen wird. Überall verlieren Menschen im Krieg. Wir brauchen Friedensverhandlungen. Und ich wünsche mir, dass wir aus den Verbrechen heutiger Kriege die universalistische Konsequenz für alle Menschen und Völker ziehen: Niemand darf diskriminiert werden.

Ungerechtigkeiten können keine weiteren Ungerechtigkeiten rechtfertigen. Das Verletzen von Rechten darf nicht als Rechtfertigung für weitere Rechtsverletzungen dienen. Ebenso darf Gewalt nicht als Vorwand für weitere Gewalt genutzt werden.

Der illegale Einmarsch Russlands in die Ukraine sollte es der ukrainischen Regierung nicht ermöglichen, die Rechte ihrer Bürger zu verletzen. Der Krieg sollte nicht als Vorwand dienen, um die Gesellschaft weiter zu spalten, indem die persönliche Sicherheit und Reisefreiheit auf einen begrenzten Kreis von politischen und wirtschaftlichen Eliten beschränkt werden. Die Verletzung der Grenzen sollte den ukrainischen Behörden nicht das Recht geben, die russische Sprache in Schulen, Buchläden und im öffentlichen Raum zu verbieten, die Verfolgung politisch unerwünschter Kirchengemeinden und die Beschlagnahmung von Kirchengebäuden zu erlauben.

Und schließlich sollten Rechtsverletzungen den Menschen nicht die Freizügigkeit nehmen und Millionen von Familien dazu zwingen, zwischen Sicherheit und Familienzusammenhalt zu wählen. Wenn der Staat Kindern und Müttern die Möglichkeit gibt, sich in Sicherheit zu bringen, sollte er dafür sorgen, dass die Väter ihnen folgen können und nicht unter Androhung von Gewalt und Folter zur Teilnahme am Krieg gezwungen werden.

Menschen eines bestimmten Geschlechts, Alters und einer bestimmten Nationalität die Möglichkeit zu verwehren, ein vom Krieg zerrissenes Land zu verlassen ist unmoralisch. Solche Beschränkungen nehmen Tausenden von Menschen ihre Arbeits-, Studien- und Entwicklungsmöglichkeiten und berauben damit mein Land der Zukunft.

Die Verweigerung von Asyl für Menschen, die Gefahr laufen, in einen Krieg hineingezogen zu werden, ist ebenfalls unmoralisch. Solche Entscheidungen zwingen Menschen dazu, sich zwischen der Flucht und der Rückkehr in die Heimat zu entscheiden und dabei zumindest ihre Gesundheit und ihre persönliche Zukunft zu riskieren. Das jüngst vom ukrainischen Parlament verabschiedete Gesetz verstößt gegen die Rechte und stürzt Hunderttausende ukrainischer Männer im Ausland in Unsicherheit. Die bestenfalls indifferente Reaktion der europäischen Regierungen ist zu kritisieren. Wir müssen die deutsche Politik auffordern, sich mit aller Kraft und mit allem Druck dafür einzusetzen, dass alle Bürgerinnen und Bürger kriegführender Staaten den Kriegsdienst verweigern und den Krieg vermeiden können.

Wir sollten deutlich machen, dass die Bedrohung für unsere Zukunft heute nicht von einer bestimmten Nationalität, Kultur oder Religion ausgeht. Die Bedrohung für unsere Zukunft liegt allein in der ungeheuerlichen sozialen Ungleichheit, der Politik der Spaltung und der selektiven Durchsetzung von Rechtsansprüchen. Und die einzige Möglichkeit, diese Bedrohung zu bekämpfen, besteht darin, die Politik der Spaltung abzulehnen, die andere Seite nicht als Feind zu brandmarken und die Rückkehr zum Dialog zu fordern. Zu einem Dialog, der es ermöglicht, den Vormarsch der extremen politischen Kräfte in Russland und in der Ukraine aber auch in Israel, in Europa und in den USA zu stoppen. Die Demokratie ist wirklich weltweit bedroht, und nur eine weltweite Ablehnung konfrontativer Politik kann den Radikalen den Wind aus den Segeln nehmen, die Demokratien sichern und etwas gerechtere Welt schaffen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

Rede von Jewgenij Arefiev, Kriegsdienstentzieher aus Russland, Sprecher der Gruppe Münster der DFG-VK (als Video: MünsterTube)

Guten Tag! Ich freue mich sehr, dass wir heute hier in Münster gemeinsam für das internationale Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung demonstrieren, international!

Bald feiern wir 75 Jahre Grundgesetz. Es ist geprägt von den Lehren aus Krieg und Faschismus. Der Geist von „Kriegsertüchtigung“ sollte besiegt und die Menschen zur Demokratie und zum Frieden befähigt werden, nicht zum Marschieren und Schießen, die Kriegsgewinnler sollten entmachtet werden, nicht die Kriegsgegner:innen schikaniert.

Im Grundgesetz steht: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen. Und außerdem: (…) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. (…) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. (…)

Für den Frieden brauchen wir nicht neue Waffen, sondern die Verbrüderung und Verschwesterung von allen Menschen, die soziale Gerechtigkeit und Frieden wollen! Ich habe das selbst erlebt. Ich bin 1994 vor 30 Jahren mit 22 aus der russischen Partnerstadt von Münster – Rjasan – zum Studium nach Münster gekommen. Das war dank der Friedenspolitik von Michail Gorbatschow möglich. Er hat die Truppen aus Afghanistan 1989 nach dem 9-jährigen Krieg abgezogen und den Krieg damit beendet. Und für die Zeit des Studiums wurde ich vom Militärdienst befreit, bis zum Alter von 27 Jahren. Ich habe mich nicht beeilt, das Studium davor abzuschließen, habe mich in der Hochschulpolitik engagiert, u.a. für die Zivilklausel – Studium, Lehre und Forschung sollen friedlichen Zwecken dienen.

In der Sowjetunion wurde ich bereits als Schüler auf den Militärdienst und auf den Krieg in der Kaserne und in der Schule vorbereitet, habe gelernt zu schießen. Ich habe mich über das Ende von heißen und kalten Kriegen deswegen sehr gefreut. Wir haben die Völkerverständigung gelebt, in Rjasan und in Münster. 1993 habe ich die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Universitäten Rjasan und Münster initiiert und 1994 angefangen, am Institut für Politikwissenschaft der Uni Münster in dem Projekt zu arbeiten. Jetzt liegt die städtepartnerschaftliche und wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Russland auf Eis, auch zwischen Münster und Rjasan. Wie soll dieser Abbruch von zivilgesellschaftlichem Austausch uns dem Frieden näherbringen?

Die Politik muss endlich der Friedenslogik und nicht der Kriegslogik folgen!

Ich engagiere mich in der Friedensbewegung in Münster seit dem völkerrechts- und grundgesetzwidrigen Krieg der Bundesrepublik Deutschland gegen die Bundesrepublik Jugoslawien 1999, im März waren 25 Jahre lang, dem bereits vergessenen Krieg nach dem Ende des 2. Weltkriegs in Europa, mit uranabgereicherter Munition, die nachhaltig tötet. Jetzt wird in der Ukraine die uranabgereicherte Munition aus den USA eingesetzt.

Ich war Zeuge, wie eine aus Serbien nach Münster geflüchtete Frau auf die Frage der Ausländerbehörde, warum sie nach Deutschland gekommen sei, geantwortet hat: „Ich bin vor deutschen Bomben geflohen.“ Daraufhin wurde die Befragung abgebrochen. Die Wahrheit hört man nicht gerne. Wir müssen die Kriegsursachen bekämpfen und nicht die Geflüchteten!

Jeder Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit! Im Krieg gibt es keine Gewinner:innen, sondern nur Verlierer:innen, außer dem militärisch-industriellen Komplex.

Menschenrechte für Alle! – Das internationale Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung muss vor allem im Krieg eingehalten werden! Die ukrainischen Studierenden an den Hochschulen in Deutschland sollen aus der Ukraine ungehindert ausreisen dürfen! Wir fordern Schutz und Asyl für alle Deserteurinnen und Deserteure, Kriegsdienstgegnerinnen und Kriegsdienstgegner, Kriegsdienstentzieherinnen und Kriegsdienstentzieher, Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner! Ein Krieg muss als Krieg bezeichnet werden dürfen! Hoch die internationale Solidarität!

Die Waffenlobbyistin Strack-Zimmermann, Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, FDP, hat im Interview dem YouTube-Kanal “Jung & Naiv” gesagt, sie würde ihren eigenen Sohn nicht in den Krieg schicken. Die Ukraine soll aber bis zum letzten Mann kämpfen. Für Deutschland. Mit deutschen Waffen. Vom deutschen Boden soll nie wieder Krieg ausgehen! Aber wo bleibt dann die notleidende Wirtschaft und die Ressourcen am Hindukusch, Struck, Strack-Zimmermann?

Ein ukrainischer Freund hat mir erzählt, er habe Putin verstanden und sei 3 Tage vor dem 24. Februar 2022 mit seiner Ehefrau und 2 kleinen Kindern nach Deutschland geflüchtet. Danach war sein Haus zerstört. Jetzt sagt er, er habe „Pistolerius“ verstanden, den deutschen Verteidigungsminister, demnächst Kriegsminister? Oder ist Deutschland nicht längst Kriegspartei? Nach dem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages vom 16. März 2022 heißt es, wenn Deutschland die ukrainischen Soldaten auf dem deutschen Boden an schweren Waffen ausbildet, spätestens dann ist Deutschland Kriegspartei. Letztes Jahr hat Deutschland damit angefangen. Nachdem Pistorius gesagt hat, Deutschland müsse kriegstüchtig werden, hat der ukrainische Freund von mir ihn verstanden und sucht jetzt für sich und seine Familie ein anderes, ein sichereres Land.

Kurz nach dem 24. Februar 2022 hat die ARD-Tagesschau einen Ukrainer interviewt, der in seiner Muttersprache gesagt hat, die ich auch verstehe: „Die da oben sollen sich einigen! Unsere Kinder sterben!“. Das wurde in dieser Tagesschau nicht ins Deutsche übersetzt. Dabei ist die Botschaft so wichtig: 

Frieden schaffen ohne Waffen rettet Leben!

Es sterben aber jetzt jeden Tag Tausende Menschen im Krieg, weltweit! Und dieser Stellvertreterkrieg in der Ukraine wird zynisch „Abnutzungskrieg“ genannt. Es wird ein Sieg der Ukraine gegen Russland gefordert, Sieg für Deutschland, Sieg für die Freiheit. Wie stellt man sich diese Freiheit vor und wessen Freiheit soll das sein? Was nützt diese Freiheit den Toten und den Überlebenden? Heißt es nicht aus der deutschen Geschichte lernen: “Lieber rot als tot!”?

Kann eine Atommacht überhaupt besiegt werden? Bringen noch mehr Atomwaffen eine Abschreckung oder Schrecken ohne Ende? Die Atomwaffen müssen vernichtet werden, bevor die Menschheit vernichtet wird! – Hiroshima und Nagasaki mahnen. Unser schöner Planet Erde wird durch Kriege zerstört. Warum sollen wir wegen der Grenzen, für die nationalistischen Wirtschaftsinteressen der Oligarchen sterben? Wie schön wäre die Erde ohne Grenzen, so wie der erste Mensch im All – auf Russisch und auf Griechisch „Kosmos“ – Juri Gagarin sie gesehen hat! Blau, grün, einfach schön.

Dieser Krieg muss so schnell wie möglich enden. Deswegen ist es notwendig, die Politik von immer tödlicheren Waffenlieferungen zu beenden. Die diplomatische Initiative muss her.

Bedürfnisse von Menschen, die Rettung des Klimas, humanitäre Hilfe tun not und nicht die Geopolitik. „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“, hat Bertolt Brecht gesagt. Deswegen bin ich gerne Pazifist und kein „gefallener Engel“, wie Kanzler Scholz behauptet hat.

Hiermit schließen wir unseren Friedensvertrag! (Reichen der Hand an Andrii Konovalov, Händedruck) Frieden heißt „mir“ auf Russisch und Ukrainisch, was auch Welt bedeutet. Frieden der Welt!

Die Rede von Guido Grünewald, Vorstandsmitglied des European Bureau for Conscientious Objection (EBCO) (als Video: MünsterTube)

Guido Grünewald, Vorstandsmitglied des European Bureau for Conscientious Objection (EBCO) – Rede bei der Kundgebung in Münster am 17. Mai 2024 im Rahmen der Freitagsmahnwache „Nein zum Krieg! Frieden schaffen ohne Waffen!“

Hallo und guten Nachmittag,

ich freue mich, dass ich heute hier sprechen darf. Vor 2 Tagen, am Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung, hat das Europäische Büro für Kriegsdienstverweigerung, abgekürzt EBCO, den aktuellen Jahresbericht über die Lage der Kriegsdienstverweigerung in Europa veröffentlicht. EBCO, gegründet 1986 mit Sitz in Brüssel, ist ein Netzwerk von Kriegsdienstverweigerungs-Organisationen. Das Büro ist Mitinitiator der #ObjectWar Campaign, in deren Rahmen diese Kundgebung stattfindet, und arbeitet mit Connection e.V., der War Resisters‘ International und dem Internationalen Versöhnungsbund eng bei der Förderung und Verteidigung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung sowie der Unterstützung einzelner Verweigerer zusammen. Das betrifft auch die neue globale Aktion #RefuseWar, über die andere heute informieren.

Die EBCO-Jahresberichte beschränken sich bewusst auf die Entwicklungen in den Mitgliedstaaten des Europarats inclusive Belarus und Kosovo (ehemalige Beitrittskandidaten) und Russland (2022 ausgetreten).  Die Bilanz ist besorgniserregend: Der Druck auf Kriegsdienstverweigerer und das Recht auf Verweigerung nimmt zu. Das trifft natürlich in erster Linie auf Russland, die Ukraine und auch Belarus zu. Belarus ist zwar bisher keine direkte Kriegspartei, allerdings befürchten dort viele, dass der Diktator Lukaschenko das Land doch noch an der Seite Russlands in den Angriffskrieg gegen die Ukraine führt. Alle drei Staaten sind hochmilitarisierte Kriegsgesellschaften mit hoher Korruption und einer staatlich orchestrierten Feindbildpropaganda, die abweichende Ansichten und erst recht Kriegsgegnerschaft als Ausdruck von Feindunterstützung klassifiziert. Die Zugriffsmöglichkeiten auf Wehrpflichtige wurden im vergangenen Jahr erweitert, u.a. durch Verlängerung des Wehrpflichtalters, Senkung der Gesundheitsanforderungen und die geplante elektronische Zustellung des Einberufungsbescheids. Wiederholt mussten wir Berichte über gewaltsame Rekrutierungen und die Strafverfolgung von Verweigernden zur Kenntnis nehmen. In Belarus wird die Zahl der Männer, die sich dem Wehrdienst entzogen haben, auf 5.000 geschätzt. Viele von ihnen sind ins benachbarte Litauen geflohen. Dort werden Deserteure allerdings vom litauischen Verteidigungsministerium als Gefahr für die nationale Sicherheit eingestuft. 300 Verweigerern wurde bisher auf dieser Grundlage Asyl verwehrt; ihnen droht die Zurückschiebung nach Belarus, wo sie hohe Strafen bis schlimmstenfalls die Todesstrafe erwarten. Aktuell gibt es Bestrebungen, diese Praxis gesetzlich zu verankern; das würde die Gefahr für belarussische Kriegsdienstgegner stark erhöhen. Olga Karatch, EBCO-Vorstandsmitglied und Leiterin der zivilgesellschaftlichen Organisation Nash Dom (Unser Haus), setzt sich im litauischen Exil unermüdlich für geflüchtete belarussische Kriegsdienstgegner ein. Auch ihr und ihrem Ehegatten wird sicheres Asyl verwehrt, obwohl ihr in Belarus in bislang 16 Gerichtsurteilen „Extremismus“ vorgeworfen wird und ihr dort hohe Strafen drohen. Gestern erhielt ich die schlimme Information, dass Olgas Ehemann Oleg Borschtschewski sein über Nacht benötigtes Lungenbeatmungsgerät zurückgeben muss, da er als nicht-anerkannter Geflüchteter vom Nationalen Gesundheitsdienst keine Leistungen erhält.

In diesem Fall können wir, so meine ich, unmittelbar helfen. Olga und Oleg können das Beatmungsgerät für 2.200 Euro kaufen. Ich selbst habe heute einen größeren Betrag überwiesen und bitte Euch ebenfalls um einen Spendenbeitrag. Wir werden den gesammelten Betrag dann auf einem sicheren Weg direkt an Olga Karatch transferieren. Nach Beendigung meiner Ansprache werde ich mit der Mütze herumgehen, wenn Ihr etwas beitragen möchtet, herzlich gerne.

Die Zahl der russischen Männer, die sich dem Kriegsdienst entzogen haben, liegt Schätzungen zufolge bei 250.000. Auf dem Papier gibt es in Russland nach wie vor ein Recht auf Verweigerung des Wehrdienstes, in der Praxis wird mit seltenen Ausnahmen der Zugang zum Alternativdienst regelmäßig verwehrt. Die Bewegung der Kriegsdienstverweigerer in Russland und Saŝa Belik, einer ihrer Protagonisten und Mitglied im EBCO-Vorstand, die seit Beginn des Angriffskriegs hauptsächlich im Exil tätig sind, wurden im Juni 2023 als „ausländische Agenten“ eingestuft. Das hat u.a. ihre Möglichkeiten zur Sammlung von Spenden stark eingeschränkt. Russische Kriegsdienstgegner:innen sind vor allem in benachbarte ehemalige Sowjetrepubliken geflohen; dort erhalten sie allerdings nur ein begrenztes Aufenthaltsrecht und sind vor Abschiebungen nicht sicher. In die EU schaffen sie es nur in seltenen Fällen, zusätzlich stellen die Gerichte dort hohe individuelle Beweisanforderungen. Darüber und zu unseren Forderungen im Rahmen der #ObjectWarCampaign werden andere heute sprechen. Ukrainische Wehrpflichtige, die in die EU gelangt sind, genießen hier auf Grundlage der sogenannten „Massenzustrom-Richtlinie“ bis März 2025 Schutz. Danach dürfte ihre Situation schwierig werden, denn die ukrainische Regierung erhöht den Druck auf Wehrpflichtige im Ausland und verlängert Pässe – wie übrigens auch Belarus – nicht mehr bei Konsulaten, sondern nur noch im Land selbst. Wer wehrpflichtig ist und zur Passverlängerung nach Belarus oder in die Ukraine einreisen würde, könnte das Land allerdings nicht mehr verlassen und würde wahrscheinlich sofort zum Kriegsdienst gezwungen. Das ohnehin stark einschränkte verfassungsmäßige Recht auf Kriegsdienstverweigerung hat die ukrainische Regierung unter Kriegsrecht gleich ganz abgeschafft. Mindestens 24 Verweigerer wurden seit Kriegsbeginn angeklagt und teils zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Yurii Scheliaschenko, sehr aktiver Generalsekretär der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung und EBCO-Vorstandsmitglied, wird seit Sommer 2023 schikaniert. Sein Computer, Smartphone und Unterlagen wurden beschlagnahmt, er steht seitdem unter nächtlichem Hausarrest. Die Behörden werfen dem Radikalpazifisten Yurii entgegen allen Fakten eine „Rechtfertigung der russischen Aggression“ vor, für den 11. Juni ist ein Strafprozess anberaumt. Ganz offenkundig soll hier ein aktiver und kompetenter Kriegsgegner mundtot gemacht und kaltgestellt werden, notfalls durch Strafverurteilung per Rechtsbeugung. Auf Betreiben des Ukrainischen Sicherheitsdienstes hat das Justizministerium außerdem kürzlich bei Gericht das Verbot der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung beantragt.

Doch nicht nur in den Kriegsländern stehen Dienstverweigerer unter Druck. Auch wenn ich mich hier auf Europa beschränke, möchte ich beispielhaft für andere Weltgegenden die Kriegsdienstverweiger:innen in Israel erwähnen, die heftig angegriffen werden und sich bravourös dem Krieg und der Besatzung entziehen. Ernsthafte Probleme in Staaten des Europarats gibt es u.a. in folgenden Ländern: Aserbaidschan (kein Alternativdienst verfügbar), Litauen (nur waffenloser Wehrdienst ist möglich), Armenien (Zivildienst wohl nur für Zeugen Jehovas zugänglich) und Griechenland, wo nicht-religiösen Verweigerern immer noch weitgehend die Anerkennung verwehrt wird. Besonders schlimm ist die Situation in der Türkei, wo es kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt und wo Verweigerer ihrer grundlegenden Bürgerrechte beraubt werden; das führt in der Konsequenz zu einer Art zivilem Tod. Und natürlich setzen die zunehmenden Vorbereitungen auf eine weiteren Krieg in Europa die Kriegsdienstverweigerung in vielen Staaten unter Druck. In Ländern wie Lettland, Schweden, Estland und Dänemark kam bzw. kommt es zur Wiedereinführung der Wehpflicht, ihrer Ausdehnung auf Frauen oder zur Verlängerung des Wehrdienstes, in anderen Staaten – auch bei uns – wird eine erneute Wehrpflicht ernsthaft diskutiert. Neben der allgemeinen gewaltigen Steigerung der Rüstungsausgaben zeigt sich in vielen Staaten ein deutlich zunehmender Einfluss des Militärs auf das Erziehungssystem, beispielhaft genannt seien hier neben den drei Kriegsstaaten Frankreich, Kroatien und Schweden. Außerdem gib es Bestrebungen – beispielsweise in Finnland, Lettland und der Schweiz -, den Alternativdienst unter dem Stichwort Gesamtverteidigung eng mit der Zivilverteidigung zu verzahnen.

Die Außerkraftsetzung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine, also in einer Kriegssituation, in der das Gewissen ja gerade geschützt sein soll, stellt sicher einen vorläufigen Tiefpunkt dar. Glücklicherweise hat sich die internationale Rechtsprechung in den letzten Jahrzehnten deutlich zugunsten der Kriegsdienstverweigerung entwickelt, auch aufgrund der intensiven Lobbyarbeit internationaler Kriegsdienstverweigerungs-Organisationen. Die internationale Rechtsprechung postuliert eindeutig, dass es sich beim Recht auf Kriegsdienstverweigerung um ein unabdingbares Menschenrecht handelt, das auch in Zeiten eines öffentlichen Notstands nicht außer Kraft gesetzt werden darf. Ein aktuelles Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zugunsten des nordzyprischen Verweigerers und EBCO-Vorstandsmitglieds Murat Kanatli hat diesen Tenor jüngst bekräftigt. Positiv stimmt auch, dass in der Jugenderklärung zu 75 Jahren Menschenrechte, die auf Initiative des UN-Hochkommissars für Menschenrechte anlässlich des 75. Jahrestags der Allgemeinen Menschenrechtserklärung im Dezember 2023 veröffentlich wurde, ein diskriminierungsfreies Recht auf Kriegsdienstverweigerung für alle Menschen gefordert wird. Und wenn in Finnland im vergangenen Jahr 1650 Reservisten die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer  beantragten – 2022 waren es sogar 3.800 – oder bei uns im Jahr 2023 mehr als 500 Menschen in Anbetracht der Wehrpflichtdiskussion sozusagen auf Vorrat einen Verweigerungsantrag stellten, sind das weitere positive Zeichen. Dennoch, insgesamt stehen die Zeichen auf Gegenwind; ohne kämpferischen Einsatz werden wir das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht verteidigen können.

Da ja leider zwei Redner ausgefallen sind, werde ich an dieser Stelle die zentralen Forderungen der #ObjectWarCampaign vortragen:

Allen, die sich dem Krieg verweigern, muss Schutz gewährt werden – sowohl aus der Ukraine als auch aus Russland und Belarus.

  • Wir fordern von den Regierungen Russlands, Belarus‘ und der Ukraine: Stellen Sie die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerer*innen und Deserteur*innen umgehend ein!
  • Wir fordern von der EU und der Bundesregierung: Öffnen Sie die Grenzen! Geben Sie Kriegsgegner*innen die Möglichkeit der Einreise in die Europäische Union! Schützen Sie Kriegsdienstverweigerer*innen und Deserteur*innen aus Russland, Belarus und der Ukraine und geben Sie ihnen Asyl!

Musikbeiträge von Claudia Lahn als Video: MünsterTube

  1. „Masters of War“ (Text: Bob Dylan, Musik: Folk/Jean Ritchie)
  2. „Der Pfahl“ (Text und Musik: Lluis Llach, dt. Nachdichtung: Oss Kröher)
  3. „Der Graben“ (Text: Kurt Tucholsky, Musik: Hanns Eisler)

Bild (Jewgenij Arefiev): Musikerin Claudia Lahn

Bild: Andrii Konovalov, Hugo Elkemann, Guido Grünewald und Jewgenij Arefiev

Bild (Jewgenij Arefiev): Moderator am Mikro: Hugo Elkemann (Friedenskooperative Münster); hinter der Kamera: Lothar Hill (MünsterTube)

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