In diesem Jahre 2021 jährt sich zum 80. Mal der Überfall von Nazi-Deutschland auf die damalige Sowjetunion. Der Überfall setzte die politische Speerspitze gegen das von den Nationalsozialisten als jüdisch-bolschewistische Untermenschentum bezeichnete Sowjetsystem und die „Volk ohne Raum“-Ideologie mit Waffengewalt um.
Auch in Münster wurden Kommandostäbe aufgestellt, die ganze Divisionen in den Krieg gen Osten schickten. Heute erinnern noch mehrere Kriegerdenkmäler in Münster an die Taten der deutschen Soldaten, die sich hier in Umkehrung der wahren Geschichte als Opfer stilisieren und so seit Jahrzehnten die Geschichte auf den Kopf stellen. Gemeint sind konkret das sogenannte Stalingrad-Denkmal an der Promenade/Ecke Kalkmarkt und das Denkmal für die Hammer-Division ausgerechnet auf dem Ehrenfeld der Opfer des Krieges auf Lauheide. Hier ist dringend Aufklärung und Beseitigung dieser schändlichen Ehrung der Täter des Krieges notwendig und so möchte ich heute mit zwei berühmten den Krieg überlebenden Zeitzeugen meine Ausführungen vertiefen. Zum einen den Bischof von Münster Graf von Galen, der in seiner Rolle als standhafter Kämpfer gegen die Euthanasie beispielhaft gewirkt hat, der aber zu den glühenden Verfechtern des Krieges gehörte.
„Der Krieg der 1919 durch einen erzwungenen Gewaltfrieden äußerlich beendet wurde, ist aufs neue ausgebrochen… Wiederum sind unsere Männer und Jungmänner zum großen Teil zu den Waffen gerufen und stehen in blutigem Kampf…. In dieser Gesinnung ist es uns selbstverständlich, daß wir die Entbehrungen der Kriegszeit willig und freudig gleich allen anderen Volksgenossen auf uns nehmen.“
(Rundschreiben von Galen 14.9.1939 zitiert nach Löffler, Mainz, Seite 747, Hervorhebung Michael Bieber)
Nachbarländer wie die Niederlande, Luxemburg, Belgien, Teile Frankreichs, Dänemark und Norwegen wurden von deutscher Wehrmacht besetzt, da lobt Galen im Juni 1940 „die Heldentaten und Erfolge unserer Soldaten“. Seine Unterstützung des Krieges hielt auch noch an als Nazi-Deutschland die Sowjetunion überfiel.
„… war für uns die Befreiung von einer ernsten Sorge und eine Erlösung von schwerem Druck, als der Führer und Reichskanzler am 23. Juni 1941 den im Jahre 1939 mit den bolschewistischen Machthabern abgeschlossenen sog. `Russenpakt` als erloschen erklärte… `Seit über zwei Jahrzehnten hat sich die jüdisch-bolschewistische Machthaberschaft von Moskau aus bemüht, nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa in Brand zu stecken…` (so zitiert Galen Hitler) und fährt fort „… Während also unsere tapferen Heere darum kämpfen, mit Gotttes Hilfe die militärisch-machtmäßige Herrschaft des Bolschewismus zurückzudrängen und hoffentlich zu ersticken…“ (Hirtenbrief 14.9.1941 – zitiert nach Löffler, Mainz, 1988, Seite 901- Hervorhebung Michael Bieber)
Soweit die fast vergessene militaristische Seite des Löwen von Münster.
Als zweiten Zeitzeugen möchte ich aus den Augen eines ehemaligen Sowjetsoldaten den gleichen Krieg beleuchten: Auszüge aus der Rede von Daniil Granin 2014 Bundestag
(Quelle der komplette Rede: https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/rede_granin-261326
„Meine Erinnerungen an die Blockade von Leningrad sind zugleich tragisch und grausam. Als der Krieg ausbrach, trat ich, ein frischgebackener Ingenieur, sofort in das Narodnoje opolotschenije, die Volkswehr, ein.
…
Die Verteidigung von Leningrad brach zusammen. Die deutschen Truppen hatten die Stadt komplett eingekesselt. Die Blockade kam unerwartet. Sie traf die Stadt unvorbereitet, in Leningrad gab es keine Vorräte, weder Nahrungsmittel noch Brennstoff.
Die Deutschen wussten ganz genau, wie es um die Stadt steht und wie sie unter dem furchtbaren Hunger leidet. Sie wussten es durch ihre Aufklärung und von Überläufern. Der Feind hätte einmarschieren können, aber er wusste, dass die Stadt und die Soldaten buchstäblich bis zum letzten Blutstropfen kämpfen werden.
Hitler sagte ständig, dass seine Truppen nicht in die Stadt vorrücken dürfen, weil die Straßenkämpfe zu verlustreich gewesen wären. Man meinte, dass die Leningrader bei dieser Ernährung nicht lange durchhalten und sich dann schon ergeben werden. Und sollte sie der Hunger dazu nicht zwingen, umso besser, dann verrecken sie und müssen nicht mehr durchgefüttert werden.
Eher zu niedrig angesetzten Berechnungen zufolge hat die Blockade über eine Million Opfer gefordert. Marschall Schukow spricht von 1.200.000 Hungertoten. Der Tod kam leise, mucksmäuschenstill, tagein und tagaus, Monat um Monat alle 900 Tage lang. Wie wollte man dem Hunger entgehen? Er griff sich seine Opfer in den Häusern, auf der Arbeit, in den eigenen vier Wänden der Menschen inmitten von Töpfen, Pfannen und Möbelstücken. Unvorstellbares diente als Nahrung. Man kratzte den Leim von den Tapeten und kochte Ledergürtel. … Man aß Katzen und Hunde. Und dann kam der Kannibalismus…
Ein Kind stirbt, gerade mal drei Jahre alt. Die Mutter legt den Leichnam in das Doppelfenster und schneidet jeden Tag ein Stückchen von ihm ab, um ihr zweites Kind, eine Tochter, zu ernähren. Und sie hat sie durchgebracht. Ich habe mit dieser Mutter und ihrer Tochter gesprochen. Die Tochter kannte die Einzelheiten nicht. Aber die Mutter wusste alles. Sie hat sich selbst gezwungen, nicht zu sterben und nicht wahnsinnig zu werden, weil sie ihre Tochter retten musste. Und gerettet hat.
…
Ab Juli 1942 haben wir versucht, den Blockadering zu durchbrechen, aber die Sturmangriffe brachten keinen Erfolg. Die Sinjawinskaja-Operation ging bis Ende Oktober. Sie blieb ergebnislos, und wir hatten 130.000 Mann verloren.
Nach dem Krieg stellte sich die Blockade von Leningrad für das ganze Land als eines der schlimmsten Kapitel in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs gegen die Deutschen dar. Schmählich für Deutschland und heldenhaft für Russland. Und letzten Endes gar nicht so sehr heldenhaft als vielmehr erstaunlich in seiner spirituellen Kraft.
Ich, der ich als Soldat an vorderster Front vor Leningrad gekämpft habe, konnte es den Deutschen sehr lange nicht verzeihen, dass sie 900 Tage lang Zivilisten vernichtet haben, und zwar auf die qualvollste und unmenschlichste Art und Weise getötet haben, indem sie den Krieg nicht mit der Waffe in der Hand führten, sondern für die Menschen in der Stadt Bedingungen schufen, unter denen man nicht überleben konnte. Sie vernichteten Menschen, die sich nicht zur Wehr setzen konnten. Das war Nazismus in seiner ehrlosesten Ausprägung, ohne Mitleid und Erbarmen und bereit, den russischen Menschen das Schlimmste anzutun. Heute sind diese bitteren Gefühle von damals nur noch Erinnerung.
1956, also elf Jahre später, kam ich nach Deutschland …
An den Wänden des Reichstags waren immer noch die Inschriften unserer Soldaten zu lesen. Eine davon ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: „Deutschland, wir sind zu dir gekommen, damit du nicht mehr zu uns kommst“. … Mir war klar, dass Hass ein Gefühl ist, das in eine Sackgasse führt. Hass hat keine Zukunft, er ist kontraproduktiv. Mir war klar, dass man vergeben können muss, aber auch nichts vergessen darf. … Vier Jahre an der Front haben mich gelehrt, dass jeder Krieg blutig und schmutzig ist. Aber die Erinnerung an die Millionen von Toten, an die zig Millionen unserer Soldaten ist notwendig. Ich habe erst vor kurzer Zeit beschlossen, über meinen Krieg zu schreiben. Warum? Weil fast alle meine Regimentskameraden und Freunde im Krieg geblieben sind, weil sie starben, ohne zu wissen, ob wir unser Land siegreich verteidigen werden können, ob Leningrad durchhält. Sie starben mit dem Gefühl der Niederlage. Es ist, als ob ich ihnen berichten will, dass wir schließlich doch gesiegt haben und sie ihr Leben nicht umsonst ließen.“
Auch auf der deutschen Seite gab es viele Opfer:
Ich möchte von einem 9jährigen Jungen in Königsberg – heute Kaliningrad – berichten. Er verabschiedete 1941 seinen „großen“ 19jährigen Bruder, der zur Wehrmacht einberufen wurde und schnell an die Front in Russland geschickt wurde. Viele Jahrzehnte später fragte mich ein weinender 80jähriger Mann, ob ich ihm helfen könnte, seinen „großen“ Bruder zu finden, er muss irgendwo zwischen Königsberg und Moskau gefallen sein.
Ich habe die Stelle gefunden – es ist ein Massengrab mit tausenden deutschen Soldaten. Der 80jährige hatte nun Gewissheit, wo sein Bruder begraben liegt – mehr konnte ich für meinen Vater an dieser Stelle nicht tun.
Nur eins:
Mich immer dafür einzusetzen, dass Hass, Rassismus und Krieg keine Mittel für die Zukunft sind, sie führen in die Sackgasse, deshalb stehe ich hier heute für die VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten).