Deutsche Friedensgesellschaft Münster

Rede von Thomas Siepelmeyer vom AKAFRIK – Arbeitskreis Afrika – Münster vor dem sog. „Traindenkmal“ (Kolonial-Schandmal) am zentralen Ludgeriplatz in Münster während der Zwischenkundgebung der Osterfriedensfahrraddemo am 3.4.21

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Das sog. Traindenkmal am Ludgeriplatz in Münster bezieht sich nicht nur auf den Völkermord an den Nama und Herero in der Kolonie
Deutsch-Südwestafrika Anfang des letzten Jahrhunderts, sondern auf der
westlichen kleinen Gedenktafel wird ein deutscher Soldat geehrt, der bei
der brutalen und blutigen Niederschlagung des Boxer-Aufstand in China
1901 „für Kaiser und Reich“ zu Tode kam – „den Heldentod starb“.

„Es starb den Heldentod / für Kaiser und Reich / in China 1901 /
Trainsoldat / Karl Adami II. Komp.“

Ich werde mich deshalb an diesem Schandmal heute nicht – wie sonst seit
jetzt fast 4 Jahrzehnten – zum Genozid der kaiserlichen Armee an den
Menschen in Namibia äußern, sondern zur Geschichte der Beziehungen der
imperialistischen Mächte zu China, als Kaiserreich, als Republik und
Volksrepublik; insbesonders wegen der heute immer mehr aufgeputschten
Stimmung auch hier gegen chinesische / asiatische Menschen oder solche,
die dafür gehalten werden.

Es gibt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, seit den beiden
Opiumkriegen Großbritanniens und Frankreichs (1839 – 42 und 1856 – 60),
die den Beginn der Kolonisierung des chinesischen Reiches markieren,
eine lange Reihe der rassistischen Schmähung chinesischer Menschen, die
bis heute andauert.

Die „gelbe Gefahr“ war von Beginn an im 19. Jhdt. das übergreifende
Narrativ der imperialistischen Mächte von den USA bis zu den
europäischen Mächten, die sich Stücke vom chinesischen Kuchen
abschneiden wollten. Billige chinesische (Zwangs)Arbeiter waren das
Hauptarbeitskräfte-Potential für den Bau der Eisenbahnlinien in den
USA. Als der dann für’s erste beendet war, stießen chinesische
Ankömmlinge in den 1880er Jahren auf immer heftigere Feindseligkeit,
neue Gesetze wurden erlassen, um sie von der Einwanderung in die USA
auszuschließen, aber viele kamen illegal an. Die Feindseligkeit zwang
sie in „Chinatowns“ oder ethnische Enklaven in den größeren Städten.

Die „Strafexpeditionen“, welche das deutsche Expeditionskorps ab
September 1901 im Zuge der Niederschlagung des sog. Boxeraufstands im
chinesischen Hinterland durchführte, waren in besonderer Weise von
einem rassistischen Rachegedanken motiviert. Wilhelm II. hatte die
20.000 Freiwilligen in Bremerhaven mit den Worten verabschiedet: „Wie
vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen
gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen
lässt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise
bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen
Deutschen auch nur scheel anzusehen.“

Als 1949 mit dem Sieg der Kommunistischen Volksbefreiungsarmee (People’s
Liberation Army – PLA) China zur Volksrepublik wurde, wurden die
chinesischen Menschen im weiteren Verlauf der Geschichte mit einem
Narrativ aus der Tierwelt rassistisch beleidigt: die blauen oder roten
Ameisen. Bücher mit diesen Bezeichnungen im Titel erscheinen massenhaft
nach 1949.

Heute ist es ganz normal, dass in Bezug auf China von Dieben die Rede
ist, die unsere Technik stehlen, von Soldaten, die uns im
südchinesischen Meer (!!) bedrohen und unsere gottgegebenen Rechte dort
nehmen wollen, von chinesischen Arbeiter*innen und Unternehmer*innen,
die uns unsere Weltmarktanteile und Einflußgebiete stehlen wollen…
was erdreisten sich diese Ameisenmassen?

Als schwerwiegendste Fälle antiasiatischer Gewalt nach 1945, die mit
antichinesischem Rassimus in enger Verbindung stehen, sind die Pogrome
in Hoyerswerda 1991 und Rostock-Lichtenhagen 1992 in das kollektive
Gedächtnis asiatischer Deutscher eingegangen. Wohngebäude, in denen
eine größere Anzahl von Vietnames*innen lebte, wurden unter den Augen
applaudierender Zuschauer*innen von gewalttätigen Rechtsradikalen
angegriffen. Die Polizei wartete in beiden Fällen tagelang, bis sie
geringfügig eingriff.

Im Kontext der Corona-Pandemie, die weltweit mit steigender
rassistischer Diskriminierung und Übergriffen auf chinesische Menschen
und die chinesische Kultur und Politik einhergeht, wird nun vermehrt
über antichinesischen / antiasiatischen Rassismus in Deutschland
gesprochen. Es wird fast unterschiedslos in allen Medien das Bild des
unzivilisierten Chinesen gezeichnet, der alles in und aus der Tierwelt
frißt und gebraucht und deshalb – vereinfacht dargestellt – für den
Corona-Virensprung von den Fledermäusen auf die Menschen
verantwortlich ist.

Dass in China mit seinen über 1,4 Milliarden Menschen die Pandemie
praktisch eingedämmt ist, ist wiederum nur erklärlich damit, dass
chinesische Menschen sich allen Zwangsmassnahmen ihres Staates furchtsam
und ohne eigenen Willen unterwerfen, auf keinen Fall darf es irgendeine
bewußte, von den Menschen getragene rationale Begründung für das
erfolgreiche Vorgehen Chinas gegen das Corona-Virus geben.

Gegen diese Fortschreibung der rassistischen Politik und Geisteshaltung
aus der Kolonialzeit und später dann der Zeit des sog. „kalten
Krieges“ nach dem 2. WK gegenüber asiatischen Menschen müssen wir uns
als Antikriegs- und Friedensbewegung heute explizit stellen, gegen alle
Versuche, den imperialistischen Block der Kolonialzeit gegen China im
Gewand der NATO wiederherzustellen und die NATO im südchinesischen Meer
gegen die Volksrepublik in Stellung zu bringen.

Laßt uns hier in DE eine konkrete Aufgabe ins Auge fassen, die mir in
den kommenden Monaten erreichbar scheint: verhindern wir politisch auf
alle mögliche Weise die geplante Ausfahrt eines Zerstörers der
Bundesmarine in den Indo-Pazifik und in das südchinesische Meer, der
zur Unterstützung der NATO und sonstigen westlichen Präsenz in der
Region gegen die Volksrepublik dienen soll.

Für uns werden die Umbenennung der Ketteler Str., des
Kaiser-Wilhelm-Rings und die Umwidmung des kolonialistischen Ketteler
Denkmals im Schloßgarten in Münster in Zukunft weitere Angriffspunkte
antirassistischer und antikolonialistischer Politik sein – Und die
Universität muss sich endlich von ihrem Namensgeber, dem vielfachen
Völkermörder Wilhelm II trennen und sich einen Namen geben, der mit
unserem demokratischen (Aus)Bildungsideal kompatibel ist.

Aufstand der Boxer gegen die Präsenz ausländischer Mächte in China
1901

„Iltis“ hieß das deutsche Kanonenboot, das unter seinem Kapitän Lans
am 17. Juni 1900 das chinesische Fort Taku beschoss. Zum ersten Mal
tauchte die Bewegung, der die Europäer den Namen „Boxer“ gaben, 1898 im
Hinterland des deutschen „Pachtgebietes“ Tsingtau in der Provinz
Shandong auf. Man gab den Aufständischen den einprägsamen Namen in
Anlehnung an die von ihnen praktizierten traditionellen Kampfsportarten.
Tatsächlich aber wussten die imperialistischen Staaten, die sich
überall in China Einflusssphären gesichert hatten, so gut wie nichts
über die Boxer. „Sie besaßen weder eine einheitliche Führung, noch
eine zusammenhängende Ideologie“, sagt Klaus Mühlhahn, Sinologe am
Institut für Ostasienwissenschaften der FU Berlin.

Hinter dem Aufstand stand die Verzweiflung der von Naturkatastrophen
heimgesuchten Landbevölkerung. 1898 überschwemmte der Gelbe Fluss die
Äcker. Ein Jahr später vernichtete eine Dürre die Ernte. Zahlreiche
Gedichte, Pamphlete und Wandzeitungen, die von taoistischen Priestern
und buddhistischen Mönchen verfasst wurden, machen die Ideenwelt der
Boxer anschaulich. Klaus Mühlhahn hat sie ausgewertet. Es regnete nicht
mehr, weil die Götter über die Anwesenheit der „fremden Teufel“, der
Christen, Missionare und Ausländer, erbost seien. Nur wenn man sie
töte, würden die Götter wieder milde gestimmt sein.

Im Frühjahr 1900 hatte sich die Boxerbewegung bis in die Mandschurei
ausgedehnt. War sie zunächst noch ein ländliches Phänomen, griff sie
seit Sommer auch auf die nordchinesischen Städte über. Die
kaiserlich-chinesische Regierung, selbst wenn sie gewollt hätte, war
außerstande, den Aufstand einzudämmen. Am 13. Juni 1900 drangen
Boxerscharen in Peking ein, töteten chinesische Christen und
plünderten.

Angriff auf das Diplomatenviertel

Am 21. Juni – eine Reaktion auf die Beschießung der Forts von Taku
durch die imp. Mächte – erklärte China allen Kolonial-Mächten
offiziell den Krieg. Die Boxer, unterstützt von regulären kaiserlichen
Truppen, belagerten das Diplomatenviertel. Der deutsche Gesandte
(Botschafter) Clemens August Freiherr von Ketteler (seit 1900), der aus
Münster kam, u.a. in Coesfeld aufs Gymnasium ging und in Münster
beerdigt ist, fiel am 21.6. den Schüssen eines chinesischen Soldaten
zum Opfer. Schon am 13. Juni hatte von Ketteler selbst einen „Boxer“
mitten aus einem Haufen auf der Gesandtschaftsstraße angegriffen.
Dieser trug die geheiligte Haube und war mit einem Schwert bewaffnet.

Fast zwei Monate wehrten sich die in der Hauptstadt eingeschlossenen
Ausländer gegen die chinesische Übermacht. Erst am 14. August, nach 55
Tagen, in denen 62 Ausländer und eine nicht bekannte Zahl chinesischer
Christen ihr Leben verloren hatten, befreite sie ein über 20.000 Mann
starkes multinationales Heer aus britischen, französischen,
amerikanischen, deutschen, russischen und japanischen
Marineinfanteristen.

Zu dieser Zeit befand sich das am 27. Juli von Bremerhaven gestartete
deutsche Expeditionskorps unter dem Kommando des Generals Alfred von
Waldersee noch immer auf hoher See. Es traf erst Ende September in China
ein. Zwar standen sich die imperialistischen Mächte in der brutalen Art
der Kriegführung gegen die Chinesen in nichts nach. Das Völkerrecht,
immerhin in Europa in Ansätzen in der ersten Haager Konvention
formuliert, blieb hier ein Fremdwort. Doch die „Strafexpeditionen“,
welche das deutsche Expeditionskorps ab September im Hinterland
durchführte, waren in besonderer Weise von einem rassistischen
Rachegedanken motiviert. Wilhelm II. hatte die 20.000 Freiwilligen in
Bremerhaven mit den Worten verabschiedet: „Wie vor tausend Jahren die
Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch
jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der
Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass
niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel
anzusehen.“

Die „Hunnen-Rede“ des Kaisers machte in aller Offenheit die Brutalität
eines sozialdarwinistisch aufgeladenen Gesinnungsmilitarismus deutlich.
Der Sinologe Mühlhahn hat in Wilhelms Rede zahlreiche religiöse
Ausdrücke entdeckt: Für ihn ein Beleg dafür, den Boxerkrieg vor allem
als einen Glaubenskrieg zu deuten. Die Chinesen, die es „gewagt“ hatten,
die christliche Kultur anzugreifen und das Leben von Europäern zu
bedrohen, hätten nicht mehr auf die Humanität des Abendlandes bauen
können und das Recht auf faire Behandlung verwirkt.

Unverhohlen appellierte der Monarch an seine Soldaten, jegliche
moralischen und humanitären Bedenken hinter sich zu lassen. „Die
Aufgabe, zu der ich Euch hinaussende, ist eine große. Ihr sollt
schweres Unrecht sühnen. Aber Ihr sollt auch rächen, nicht nur den Tod
des Gesandten, sondern auch vieler Deutscher und Europäer. Kommt Ihr
vor den Feind, so wird er geschlagen. Pardon wird nicht gegeben,
Gefangene werden nicht gemacht.“

Von diesem Freibrief machten die deutschen Truppen regen Gebrauch. Sie
hielten sich nicht lange damit auf, Boxer und Nicht-Boxer auseinander zu
halten. Galt ein Dorf als „Boxer-Dorf“, wurden kurzerhand alle Bewohner
ermordet und die Häuser niedergebrannt. Wie viele Chinesen diesem
Völkermord zum Opfer fielen, ist bis heute nicht bekannt. Die
Ankündigung des deutschen Kaisers „Gefangene werden nicht gemacht“
wurde Wirklichkeit. „Es gab während der noch fast einjährigen Kämpfe
nirgendwo Gefangenenlager“, berichtet der Sinologe Mühlhahn.

Eine Kriegführung, die sich in erster Linie gegen die Zivilbevölkerung
richtete, war bis dahin in Europa unbekannt. Sie wurde in den Kolonien
erprobt und gelangte im Ersten und Zweiten Weltkrieg nach Europa
zurück. Als im Herbst 1901 der letzte Widerstand auf dem Land gebrochen
war, zwangen die Sieger dem Land einen Friedensvertrag auf. Das
sogenannte „Boxerprotokoll“ enthielt drakonische Bestimmungen. Zehn hohe
chinesische Beamte wurden hingerichtet, viele weitere zu hohen
Freiheitsstrafen verurteilt. Vor allem ließen sich die kolonialen
Mächte ihr „Engagement“ in barer Münze zurückzahlen: über 300
Millionen Dollar betrug die „Entschädigung“.

Fast noch wichtiger war es dem Deutschen Reich, neben der materiellen
auch eine symbolische Wiedergutmachung durchzusetzen. Der chinesische
Prinz Chun musste im Rahmen einer „Sühne-Reise“ im September 1901 vor
Wilhelm II. in Berlin den Kotau vollziehen und ihn offiziell um
Verzeihung bitten. Unter den Mandschu, der aus der Mandschurei
stammenden seit 1644 herrschenden Dynastie, erfuhr China seine tiefste
Demütigung.

Der Nationalismus wurde mächtig

Indes gelang es schon nach 1900 keiner der imperialistischen Mächte
mehr, China Interessenssphären, Wirtschaftskonzessionen oder
Pachtgebiete gewaltsam abzuringen. Der Nationalismus war auch im „Reich
der Mitte“ zu einer Macht geworden. Der Boxeraufstand hatte also
indirekt dazu beigetragen, das moderne China herauszubilden. Als 1949
mit dem Sieg der Kommunistischen Volksbefreiungsarmee (People’s
Liberation Army – PLA) China zur Volksrepublik wurde, stand die
Erinnerung an den Boxeraufstand erstmals unter positivem Vorzeichen.
Besonders während der Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976 galten
die Boxer als mutige Helden und antiimperialistische Patrioten.

Mit freundlichen Grüßen / Best regards / Muy atentamente

Arbeitskreis Afrika – AKAFRIK – Münster

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